Auch Autofahrende profitieren, wenn mehr Menschen radeln oder zu Fuß gehen

Ein Interview über die Förderung von Radfahrenden und Fußgänger:innen in Wien, die Vorteile dieser Transformation für alle Beteiligten und die schönsten Ecken Wiens.

Kategorie

Fahrradheld:innen

Datum

Oktober 2024

Martin Blum und Petra Jens sitzen im Supergrätzl
Martin Blum und Petra Jens sitzen im ersten Wiener Supergrätzl. Das ist ein verkehrsberuhigter Stadtteil mit viel Grün und Raum für Erholung.

Petra Jens und Martin Blum leiten die Mobilitätsagentur Wien und setzen sich für eine nachhaltige Verkehrswende in Österreichs Hauptstadt ein. Ein Gespräch über ihre Erfolge beim Ausbau des Rad- und Fußverkehrs, über Widerstände bei Transformationsprozessen und warum der Dialog mit Bürger:innen so wichtig ist.

Welche Ziele und Visionen haben Sie, um Wien fahrrad- und fußgängerfreundlicher zu gestalten?

Martin Blum: Wir möchten Wien, eine der Städte mit der höchsten Lebensqualität weltweit, noch lebenswerter machen, indem wir hervorragende Bedingungen zum Radfahren und zu Fuß gehen schaffen und den Anteil am öffentlichen Nahverkehr erhöhen. Ebenso fördern und managen wir Sharing-Mobilität wie Lastenradsharing, Carsharing und Verleih-E-Scooter.

Welches waren Ihre bisher größten Erfolge als Mobilitätsagentur?

Petra Jens: Wir sind stolz auf die neue Argentinierstraße, die zentrale Radverbindung zwischen Innenstadt und Hauptbahnhof. Nach Fertigstellung wird sie eine Fahrradstraße nach niederländischem Modell sein: Radfahrende dürfen nebeneinander radeln, Autos nur noch queren oder zufahren. Außerdem gibt es mehr Aufenthaltsbereiche mit viel Grün. So verbessern wir auch die Bedingungen zum Zu-Fuß-Gehen. Das ist dort übrigens schon sichtbar, die Menschen dort nutzen dies intensiv.
Weitere Erfolge sind die Einführung von Schulstraßen in Wien und die „Masterpläne Gehen" in den 23 Wiener Bezirken. Schulstraßen sind eine echte Innovation von uns und der Stadt Wien. Temporär werden Straßen und Plätze vor Schulen für den KFZ-Verkehr gesperrt, um den Schüler:innen den Weg zu erleichtern und sicherer zu machen.
Die Masterpläne sind grundsätzliche Strategien der Stadtbezirke für das Zu-Fuß-Gehen und Voraussetzungen für Förderungen seitens des Bundes für Projekte zur Verbesserung von Gehsteigen, Plätzen oder auch Kreuzungsquerungen.

Martin Blum: Seit unserem Start 2011 hat sich der Radverkehr ungefähr verdoppelt. Die Stadt Wien baut Radwege auf Rekordniveau aus. Seit 2022 bspw. jährlich ca. 20 Kilometer neue Radverkehrsinfrastruktur. Das ist ein großer Erfolg.

In Deutschland forderte die FDP kürzlich eine Flatrate fürs Parken, weniger Fahrradwege und Fußgängerzonen. Vermutlich gibt es auch in Österreich Interessenskonflikte zwischen den verschiedenen Verkehrsteilnehmenden. Wie gehen Sie damit um?

Petra Jens: Als wir gestartet haben, war das Thema Parkplätze versus Radwege sehr dominant. Mit einer konsequenten strategischen Kommunikation konnten wir die Bevölkerung einbinden und gemeinsam erarbeiten, was alle gewinnen, wenn wir Räume transformieren. Jetzt steigt mit jeder umgebauten Straße die Zustimmung. Das prominenteste Beispiel ist der Umbau der Mariahilfer Straße, der größten Einkaufsstraße Wiens: Zunächst gab es einen Riesenaufstand, aber nach dem Umbau 2015 wollte niemand mehr den ursprünglichen Zustand zurück. Auch nicht die Gegner:innen! Letztendlich profitieren auch Autofahrende davon, wenn mehr Menschen radeln oder zu Fuß gehen.

Martin Blum: Bei unseren Transformationsmaßnahmen ist auch die Begrünung der Stadt wichtig. Die Sommer werden immer heißer, wir brauchen also mehr Schatten und Abkühlung. 

Was können Kommunen in Deutschland oder auch in Europa von Wien lernen?

Petra Jens: Ganz wichtig ist der Dialog mit den Bürger:innen. Wir befragen bei großen Projekten die Anwohner:innen, was sie sich wünschen. Das Ergebnis ist fast immer: Wir wollen schönere Straßen, mehr Bäume und grüne Aufenthaltsbereiche, verbesserte Rad- und Fußwege-Infrastruktur sowie eine sichere Verkehrsführung. Erst an letzter Stelle der Wunschliste kommt: Wir wollen mehr KFZ-Stellplätze.

Letztendlich profitieren auch Autofahrende davon, wenn mehr Menschen radeln oder zu Fuß gehen.
Petra Jens
Petra Jens ist seit 2013 die Beauftragte für Fußverkehr in der Mobilitätsagentur Wien. Gemeinsam mit Martin Blum bildet sie die Doppelspitze der Agentur. Ihr Aufgabenbereich umfasst die Förderung des Zu-Fuß-Gehens in Wien durch Bewusstseinsbildung und die Verbesserung der Fußgängerinfrastruktur.

Welche Rolle spielen das Fahrrad und das Zu-Fuß-Gehen bei der Mobilitätswende?

Petra Jens: Die eigenen Beine und das Fahrrad sind die Null-Emissions-Fortbewegungsmittel und somit die Verkehrsmodi der Wahl auf kurzen Wegen. Insofern sind unsere Beine, die wir ja auch zum Radeln brauchen, zentral für die Mobilitätswende.
In Wien haben wir sehr dichte Nahverkehrsstrukturen. Die Menschen gehen oft zu Fuß, zum Beispiel zum Einkaufen, zur Bildungsstätte oder zur Ärztin.
In Kombination spielt der öffentliche Verkehr natürlich eine Riesenrolle. Interessanterweise funktioniert der nur gut in Verbindung mit dem Zu-Fuß-Gehen, was viele vergessen. Auch hier arbeiten wir in Wien laufend an Verbesserungen und am Ausbau. Nicht nur durch eine neue U-Bahnlinie, sondern auch durch neue Straßenbahnlinien.

Stellen Sie sich vor, Sie sind soeben zur Bundesministerin bzw. zum Bundesminister für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie ernannt worden. Welches Gesetz würden Sie als Erstes auf den Weg bringen?

Petra Jens: Im ländlichen Raum in Österreich haben wir eine sehr starke Zersiedelung, das macht uns zunehmend zu schaffen. Deshalb wäre das wichtigste Gesetz ein Raumordnungsgesetz, das kompakte Siedlungsstrukturen und kurze Wege für die Menschen in den Dörfern sicherstellt. Das ist eine noch nicht geknackte Nuss in Österreich.

Martin Blum: Beim Autobahnausbau geht es um riesige Geldsummen, für den Radverkehr werden oft nur Peanuts ausgegeben. Ich würde viel mehr in den Radverkehr investieren. Außerdem würde ich viel günstigere und bessere Rahmenbedingungen für das Thema Carsharing schaffen, um es attraktiver zu machen. Dann würde in vielen Fällen der eigene PKW obsolet werden.

Gratulation, Sie sind die neuen JobRad®-Fahrradheld:innen! Wer sind Ihre Vorbilder? Wen sollten wir als nächstes in dieser Reihe interviewen?

Petra Jens: Richtige Vorbilder habe ich nicht. Denn gerade beim zu Fuß gehen ist immer noch sehr viel Pionierarbeit zu leisten. Auf internationaler Ebene gibt es die Fußgänger:innen-Organisation „Walk 21“. Sie organisiert den jährlichen Weltgipfel zum Thema „Zu-Fuß-Gehen“ und wird von zwei sehr charismatischen Persönlichkeiten geleitet, die den Titel „JobRad-Fahrradheld:in“ verdienen würden: Jim Walker, lustig, dass er „Geher“ heißt, und Bronwen Thornton

Martin Blum: Meine Kolleg:innen Kirsten Pfaue, Radverkehrsbeauftragte in der Freien und Hansestadt Hamburg und Dr. Florian Paul, Radverkehrsbeauftragter der Stadt München. Sie sind beide sicher interessante Gesprächspartner.

Beim Autobahnausbau geht es um riesige Geldsummen, für den Radverkehr werden oft nur Peanuts ausgegeben.
Martin Blum
Martin Blum ist seit 2011 Radverkehrsbeauftragter der Stadt Wien und Geschäftsführer der Mobilitätsagentur Wien. Als ehemaliger Sprecher des Verkehrsclub Österreich setzt er sich für die Förderung des Radverkehrs in der österreichischen Hauptstadt ein. Zu seinen Aufgaben gehören die Planung und Umsetzung von Radwegprojekten, Öffentlichkeitsarbeit und die Vermittlung zwischen Bevölkerung, Politik und Verwaltung.

In welcher Stadt in Europa fahren Sie am liebsten Fahrrad bzw. gehen Sie am liebsten zu Fuß?

Martin Blum: Ich fahre am liebsten in Wien mit dem Fahrrad. Eine großartige Stadt, die viel zu bieten hat – vom Nationalpark über die Weinberge bis hin zu einer wunderschönen City. 

Petra Jens: Abgesehen von Wien ist Freiburg sehr attraktiv zum Zu-Fuß-Gehen. Ich kenne die Stadt im Breisgau, weil meine Mama Freiburgerin ist. Mich haben schon immer die Bächle, die durch die Altstadt fließen, fasziniert. Da kann man wunderbar entlang flanieren. 

Frau Jens, mit welchem Schuhwerk gehen Sie denn durch Freiburg, durch Wien oder wo auch immer?

So bequem wie möglich. Ich muss gestehen, dass ich mich als Fußgänger:innenbeauftragte für Schuhmode nicht wirklich begeistern kann. Am liebsten gehe ich barfuß oder mit Bergschuhen!

Herr Blum, wie radeln Sie durch die Stadt?

Wir haben in unserem Büro einen Fahrradpool, und da gibt es zum Beispiel ein E-Bike, dem man nicht ansieht, dass es einen Elektromotor besitzt. Ich schätze den elektrischen Rückenwind mittlerweile sehr, gerade wenn ich dienstlich schnell wohin muss und entspannt ankommen möchte. Privat nutze ich ein Randonneur, ein schnelles Fahrrad mit Stahlrahmen und gebogenem Lenker. Damit gehe ich in ganz Europa auf Tour. 

Ihre schönste Fahrrad- bzw. Stadtwandertour durch Wien?

Petra Jens: In Wien finde ich es sehr schön, durch die Weinberge mit Blick auf die Stadt zu gehen oder entlang des Donaukanals, wo ich aufgewachsen bin. 

Martin Blum: Touristisch sehr attraktiv ist der Ringradweg, wo man viele Sehenswürdigkeiten der Stadt entdecken kann. Und wenn man im Sommer baden möchte, bietet sich die Donauinsel an – 20 Kilometer lang und autofrei. Von der Donau aus können die Sportlichen auf den Kahlenberg radeln und oben angekommen die Aussicht auf Wien genießen.

Die Mobilitätsagentur Wien ist seit 2011 eine zentrale Institution zur Förderung des Fuß- und Radverkehrs in der Stadt. Unter der Leitung von Martin Blum und Petra Jens agiert die Agentur als Schnittstelle zwischen Bevölkerung, Politik und Verwaltung. Mit einem jährlichen Budget von etwa drei Millionen Euro plant und setzt das Team Projekte zur Verbesserung der aktiven Mobilität um. Dazu gehören der Ausbau des Radwegenetzes und die Entwicklung von Informationskampagnen. 

Das könnte Sie auch interessieren

Martin Blum und Petra Jens sitzen im Supergrätzl
Fahrradheld:innen

Auch Autofahrende profitieren, wenn mehr Menschen radeln oder zu Fuß gehen

Ein Interview über die Förderung von Radfahrenden und Fußgänger:innen in Wien, die Vorteile dieser Transformation für alle Beteiligten und die schönsten Ecken Wiens.

Mehr lesen
Fahrradheldin Katja Diehl sitzt auf Straße
Fahrradheld:innen

Für das Recht auf ein Leben ohne eigenes Auto

Ein Interview über Wahlfreiheit in der Mobilität, Morddrohungen und darüber, was sie als Verkehrsministerin als Erstes tun würde.

Mehr lesen
Shahrzad Mohammadi Portrait
Fahrradheld:innen

Für mich bedeutet Fahrradfahren auch Freiheit.

Ein Interview über Lieblingsrennradstrecken, Radfahrverbote für Frauen und das Gefühl von Freiheit auf zwei Rädern.

Mehr lesen